EXPERTENINTERVIEW RATGEBERAKTION „Pflegen – nein danke!“ am 20.09.2012

Experteninterview zum Thema „Ein Pflegefall kann für jede Familie zur Zerreißprobe werden“

Interview mit Dr. phil. Britta Wiegele, Psychotherapeutin, Dipl.-Psychogerontologin, Memory Klinik Neuperlach und Hippocampus Gerontologische Praxis München. Schwerpunkte: Diagnostik und Therapie von Gedächtnisbeeinträchtigungen und Demenzerkrankungen, Beratung pflegender Angehöriger und Fortbildungsangebote für den Umgang mit Menschen mit Demenzerkrankungen, und Peter Straßer, Experte für Leistungen der privaten Pflegeversicherung bei der Münchener Verein Versicherungsgruppe

 

 

 

 

 

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Wie erklärt man es seinen Eltern, wenn man nicht (mehr) die Kraft hat, sie zu pflegen? Gibt es für solche Gespräche so etwas wie eine Mediation?

  • Dr. phil. Britta Wiegele: Pflegende können sich als Unterstützung für ein solches Gespräch sowohl an eine Beratungsstelle für pflegende Angehörige wenden als auch an eine Praxis für Psychotherapie und natürlich auch an Mediatoren. Nach Postleitzahlen geordnet können sie diese zum Beispiel auf der Homepage der Mediationszentrale Hamburg finden.

Bis zu wie vielen Stunden pro Woche sollten Kinder ihre Eltern selbst betreuen und woran können Pflegebedürftige wie auch pflegende Angehörige merken, dass es zu viel wird?

  • Dr. phil. Britta Wiegele: Das hängt sehr von den zusätzlichen Verpflichtungen der pflegenden Angehörigen ab. Für eine berufstätige Mutter von schulpflichtigen Kindern mögen schon zwei Stunden pro Woche die Belastungsgrenze überschreiten, während andere Angehörige mehrere Stunden Pflege pro Tag noch mit einem ausgeglichenen eigenen Alltag vereinbaren können. Sobald pflegende Angehörige an sich beobachten, dass sie auch dann, wenn sie gerade nicht bei ihrem pflegebedürftigen Familienmitglied sind, keine Lust mehr verspüren, Freunde zu treffen oder etwas für sich zu unternehmen, so ist dies ein deutlicher Hinweis auf Überforderung.

Welche besonderen Anforderungen stellt die Pflege dementer Menschen?

  • Dr. phil. Britta Wiegele: Die Pflege oder Betreuung von Demenzerkrankten ist besonders anspruchsvoll, weil sich das Wesen des Erkrankten sehr stark verändern kann. Nicht selten werden gerade die Familienangehörigen mit Vorwürfen und Beschuldigungen konfrontiert. Die Erkrankten haben häufig keinerlei Einsicht in die Situation, wehren sich gegen Unterstützung, wollen alles alleine machen, fühlen sich kontrolliert und eingeengt. Doch die größte und wichtigste Herausforderung ist das Aufbringen unendlicher Geduld. Mit fortschreitender Erkrankung und zunehmender Schwere der Symptome können die Umkehr des Tag-Nacht-Rhythmus, Unruhezustände, das nicht mehr Wiedererkennen der Angehörigen, der völlige Rückzug in die Vergangenheit und nicht zuletzt der Verlust der Kontrolle über die Körperausscheidungen dazu führen, dass die häusliche Versorgung an ihre Grenzen gerät.

Wo erhalten Menschen, die ihre Angehörigen daheim pflegen, emotionale und psychologische Unterstützung?

  • Dr. phil. Britta Wiegele: Die wichtige emotionale Unterstützung bekommen pflegende Angehörige häufig in Selbsthilfegruppen. Der Austausch mit anderen Betroffenen, die in der gleichen Situation sind, ist enorm wichtig. Es ist als besonders positiv zu bewerten, wenn die Selbsthilfegruppen durch beispielsweise Psychologen, Psychologinnen oder Pflegefachkräfte unterstützt werden. Psychologische Unterstützung in Form von Beratung und Psychotherapie sowie Anleitung zu Entspannungsverfahren finden Sie in Praxen für Psychotherapie. Es empfiehlt sich, bereits bei der Auswahl darauf zu achten, ob die Praxis einen Schwerpunkt zu den Themenbereichen häusliche Pflege, Alter oder Demenz ausweist.

Wie können pflegende Angehörige die Doppelbelastung Pflege und eigene Familie am besten meistern?

  • Dr. phil. Britta Wiegele: Bei länger andauernden Belastungssituationen empfiehlt es sich, die Zuständigkeiten und Aufgaben an sämtliche Familienmitglieder zu verteilen. Viel zu häufig geschieht es, dass sich ein Familienmitglied – nach wie vor sind dies in der Mehrzahl Frauen – eher unfreiwillig in der Rolle der Hauptverantwortlichen findet. Deshalb sollten so früh wie möglich zusätzliche professionelle Helfer eingesetzt werden. Wird in der Familie langfristig Pflege geleistet, so empfiehlt es sich zwischendurch einen runden Tisch oder eine Familienkonferenz einzuberufen, bei der alle Beteiligten ihre Wünsche und Anregungen vorbringen können.

 

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Worauf sollte man beim Abschluss einer privaten Pflegeversicherung unbedingt achten?

  • Peter Straßer: Wichtige Kriterien für eine private Pflegevorsorge sind, dass auch bei Laienpflege im ambulanten Bereich die Leistung zu 100 Prozent erbracht wird, dass die Dynamik Schutz vor der Inflation bietet, dass im Pflegefall die Beitragsbefreiung greift und dass auch die Pflegestufe 0 abgesichert ist – das ist beispielsweise für Demenzpatienten sehr wichtig. Außerdem sollte die Versicherung ohne Höchstaufnahmealter abschließbar sein und den Versicherten die Wahl lassen, ob sie die stationäre und die ambulante Pflege absichern möchten oder nur die stationäre Pflege. Kleiner Spar-Tipp: Männer können bis 21. Dezember 2012 viel Geld sparen. Denn danach verteuern sich für sie aufgrund des sogenannten Unisex-Urteils der Europäischen Union die Versicherungsbeiträge. Wie teuer das zum Beispiel bei der Pflegevorsorge werden kann und weitere Tipps kann man unter www.deutsche-privat-pflege.de nachlesen.

Für wen lohnt sich ab 1.1.2013 der Abschluss der neuen staatlich geförderten Pflegeversicherung?

  • Peter Straßer: Diese Frage kann derzeit nicht abschließend beantwortet werden, da noch keine konkreten Ausführungsbestimmungen vorliegen. Der Grundgedanke des sogenannten Pflege-Bahrs ist aber, die Versorgungslücke für den Pflegebedürftigen zwischen den tatsächlichen Kosten und der gesetzlichen Grundversorgung nach Sozialgesetzbuch XI zu schließen. Sowohl gesetzlich als auch privat Versicherte sollen davon ohne Altersbeschränkung und ohne Gesundheitsprüfung profitieren können.

Welche Informationen benötigt die private Pflegeversicherung im Pflegefall?

  • Peter Straßer: Grundsätzlich muss der Nachweis der gesetzlichen Pflegeversicherung über die Einstufung in eine Pflegestufe vorgelegt werden. Dazu sind normalerweise das Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung – MDK oder Medicproof – und der Bewilligungsbescheid der deutschen gesetzlichen Pflegeversicherung nötig. Diese Vorgehensweise kann jedoch von Versicherer zu Versicherer unterschiedlich sein.

Werden Zahlungen aus der privaten Pflegeversicherung bei den Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung angerechnet?

  • Peter Straßer: Nein, eine Anrechnung findet nicht statt. Die Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung und der privaten zusätzlichen Pflegevorsorge stehen selbstständig nebeneinander und ergänzen sich somit.

Mit welchen Kosten müssen Pflegebedürftige in Pflegestufe II rechnen, wenn sie die häusliche Pflege mit einem Pflegedienst organisieren und dabei nicht auf unentgeltlich helfende Angehörige zurückgreifen können?

  • Peter Straßer: Die gesetzliche Pflegeversicherung nach SGB XI leistet derzeit für die Inanspruchnahme eines zugelassenen ambulanten Pflegedienstes im Rahmen der Pflegestufe II monatlich bis zu 1.100 Euro. Diese Leistung stellt nur eine Grundversorgung dar und reicht erfahrungsgemäß nicht aus. Sofern der Pflegebedürftige mit der Pflegestufe II ausschließlich von einem ambulanten Pflegedienst versorgt wird, muss von durchschnittlich zwei Hausbesuchen täglich ausgegangen werden sowie von mindestens einmal täglich großer Körperpflege und einmal täglich kleiner Körperpflege. Nach meinen Erfahrungen ist bei Pflegestufe II mit einer monatlichen Belastung von ca. 1.600 Euro bis 2.000 Euro für eine gute und pflegerisch ausreichende Pflege zu rechnen.
Quelle: deutsche journalisten dienste (djd),
Gesundheitsthemen